Proben bis spät in die Nacht, ständige Reisen, kurzfristige Ausfälle in der Kinderbetreuung, die Suche nach einer bezahlbaren Wohnung am Gastspielort, die Organisation von Schulangelegenheiten in einer fremden Stadt – das ist nur ein kleiner Ausschnitt aus dem Alltag von Künstler*innen mit Care-Aufgaben. Sie jonglieren zwischen Proben, Aufführungen und der Verantwortung für ihre Familien.
UNGLEICHE VERTEILUNG VON CARE-AUFGABEN
Care Aufgaben sind ungleich verteilt und werden größtenteils von Frauen übernommen. Laut Statistischen Bundesamt verbringen Frauen im Durchschnitt knapp 30 Stunden pro Woche mit unbezahlter Arbeit1. Dies ist zumeist Care-Arbeit im weitesten Sinne: Haushaltsführung, Kinderbetreuung oder Pflege von Angehörigen. Als Ergebnis arbeiten Frauen häufiger in Teilzeit: 2023 waren beispielsweise rund 50 Prozent aller Frauen in Teilzeit beschäftigt, während dieser Anteil bei Männern nur bei 13 Prozent lag2. Ein Hauptgrund für die Teilzeitarbeit von Müttern ist die Betreuung von Kindern.
1 Statistisches Bundesamt (Destatis), Gender Care Gap 2022: Frauen leisten 44,3% (alt: 43,8%) mehr unbezahlte Arbeit als Männer. Pressemitteilung Nr. 073 vom 28. März 2024, https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2024/02/PD24_073_63991.html.
2 Statistisches Bundesamt (Destatis), Teilzeitquote erneut leicht gestiegen auf 31% im Jahr 2023. Pressemitteilung Nr. N017 vom 26. April 2024, https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2024/04/PD24_N017_13.html.
3 Gabriele Schulz, Olaf Zimmermann, Baustelle Geschlechtergerechtigkeit. Datenreport zur wirtschaftlichen Lage im Arbeitsmarkt Kultur, Berlin: 2023, S. 112.
4 Statistisches Bundesamt (Destatis), Gender Pension Gap 2023: Alterseinkünfte von Frauen 27,1% niedriger als die von Männern. Pressemitteilung Nr. N016 vom 24. April 2024, https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2024/04/PD24_N016_12_63.html.
AUSWIRKUNGEN AUF WOHLBEFINDEN UND FINANZEN
Die Anforderungen der Care-Arbeit prallen hart auf die hochkompetitive Welt der Performing Arts. Künstler*innen müssen nicht nur künstlerische Höchstleistungen bringen, sondern auch flexibel sein, belastbar und zusätzlich Reisetätigkeiten auf sich nehmen. Diese Doppelbelastung führt zu einer erheblichen Mehrbelastung und hat negative Auswirkungen auf ihr Wohlbefinden, Karrierechancen und ihre finanzielle Situation.
Die Folgen sind gravierend: Neben einem erhöhten Stresslevel und einer geringeren Work-Life-Balance führt die Doppelbelastung zwischen Theaterberuf und Familie auch zu einem erheblichen Gender Pay Gap. Bei den Selbständigen der Berufsgruppe Darstellende Kunst befindet sich der Einkommensunterschied zwischen Männern und Frauen „auf einem hohen Niveau.“3 In Berufen mit Tarifvertrag sind die Einkommensunterschiede geringer. Nichtsdestotrotz alarmieren die Zahlen zum Gender Pension Gap: So ist laut Statistischen Bundesamtes jede fünfte Frau ab 65 Jahren armutsgefährdet4.
Langfristig wirkt sich die ungleiche Verteilung von Care-Arbeit auf die gesamte Lebensplanung aus. Beschäftigte mit Care-Verpflichtung bauen aufgrund geringerer Einkommen weniger Vermögen aufbauen und im Alter oft von einer geringeren Rente leben.
HERAUSFORDERUNGEN FÜR THEATER UND GESELLSCHAFT
Der Spagat zwischen Familie und Beruf stellt das traditionelle Theatersystem vor große Herausforderungen. Es ist ein Konflikt zwischen künstlerischer Leidenschaft und den realen Bedürfnissen von Menschen, die neben ihrer Arbeit auch noch eine Familie versorgen. Die Folge ist eine emotionale Debatte um bessere Arbeitsbedingungen und eine gerechtere Verteilung von Care-Arbeit. Diese Debatte betrifft vor allem Frauen*. Es gibt aber auch Kontexte, in denen Männer Sorge-Arbeit übernehmen und vor ähnlichen Herausforderung stehen wie Frauen*.
Der Policy Baukasten Familie und Care am Theater geht über traditionelle Familienmodelle hinaus und berücksichtigt die vielfältigen Lebensrealitäten von Familien mit einem oder zwei Elternteilen, Regenbogenfamilien oder Patchworkfamilien. Er bietet Lösungen, die sowohl Väter als auch Mütter adressieren und dabei helfen, Beruf und Familie zu vereinbaren. Ziel ist es, Theaterstrukturen zu schaffen, die eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie ermöglichen. Gerade diese „soften“ Managementthemen versprechen eine schnelle und signifikante Verbesserung von Beschäftigten mit Care-Verpflichtung. Hierzu zählen beispielsweise die Umsetzung einer modernen Arbeitskultur, menschenzentrierte Mitarbeiterführung, flexible Arbeitszeitmodelle, digitale Unterstützung von Arbeits- und Probenprozesse sowie die Anerkennung von Lebensleistung.
Vielen Dank an Cilgia Gadola vom Bundesverband Freie Darstellende Künste e.V. für die Unterstützung bei der Recherche!
Das Frauenkulturbüro NRW präsentiert mit dem Policy Baukasten Familie und Care am Theater eine für die Kulturpolitik neuartige Lösung: Das vielfältige Thema Familienvereinbarkeit in Theatern wird übersichtlich dargestellt und nutzer*innenfreundlich systematisiert. Der Policy Baukasten ist aus einer intensiven, mehrjährigen Arbeit im Rahmen des Modellprojekts „Familienfreundlichkeit an Theater“ entstanden (2021-2024).
Im Rahmen des Modellprojekts „Familienfreundlichkeit in Theatern“ haben das Theater Oberhausen und das Theater Münster inhaltlich mit dem Frauenkulturbüro zusammengearbeitet. Die Regisseurin und Künstlerische Projektleiterin Frauke Meyer verantwortet den Netzwerkaufbau sowie die konzeptionelle Entwicklung und Durchführung des Modellprojekts.
Vom 4.-5. Mai 2023 fand am Theater Oberhausen ein viel beachtetes Symposium „Familienvereinbarkeit in den Performing Arts“ statt. In der Folge engagieren sich die Theater Oberhausen und Münster in dem Modellprojekt. Sukzessive erweitert Frauke Meyer das Netzwerk um weitere Partner*innen wie die Bühnenmütter*, den Dachverband Tanz, Kampnagel, den Verband der Freien Darstellenden Künste, den Deutschen Bühnenverein, dem Projektbüro „Frauen in Kultur&Medien“ des Deutschen Kulturrat sowie zahlreiche engagierte Einzelpersonen und Initiativen. Allen Partner*innen ist gemeinsam, das sie großen Handlungsbedarf sehen.
Durch Interviews, Gespräche und Arbeitsgruppen hat das Netzwerk des Frauenkulturbüro NRW wertvolle Erkenntnisse gewonnen. Die Ergebnisse wurden in die Konzeption und Erarbeitung des Policy Baukasten aufgenommen.
EXPERT*INNEN-GESPRÄCHE
Ende 2023 wurde das Cultural Policy Lab unter Leitung von Dr. Christian Steinau mit der wissenschaftlichen Begleitung des Modellprojekts „Familienfreundlichkeit in Theatern“ betraut. Schnell entstand die Idee, das über Jahre im Frauenkulturbüro aufgebaute Wissen nicht im Rahmen einer „weiteren Studie“, sondern eines interaktiven und lebendigen Policy Baukasten zu präsentieren. Das Cultural Policy Lab ist der Partner für alle kulturpolitischen Dienstleistungen und hat in der Vergangenheit mit Verbänden und Initiativen an kulturpolitischen Zukunftsthemen wie Nachhaltigkeit, Resilienz und Gesundheit von Kulturschaffenden gearbeitet.
In Zusammenarbeit mit Frauke Meyer entstand ein fruchtbarer Dialog zwischen Theater, Wissenschaft und Kulturpolitik. In Folge wurde mit dem Policy Baukasten ein Angebot geschaffen, das sich an einen vielfältigen Nutzer*innenkreis richtet. Der Policy Baukasten „Familie und Care“ am Theater unterstützt dabei, den Status Quo zu analysieren und auf Grundlage einer systematischen Darstellung Veränderungsprozesse anzustoßen. Bei der Konzeption konnte auf die langjährige Erfahrung von Dr. Christian Steinau als Transfermanager an einer der forschungsstärksten Universitäten Deutschlands zurückgegriffen werden.
Mit dem Policy Baukasten bietet das Frauenkulturbüro NRW und das Cultural Policy Lab ein zielgruppenspezifisches Management-Tool für Kulturpolitik, -verwaltung, Theaterleitungen und Künstler*innen an. Der Baukasten liefert überzeugende Argumente für die Notwendigkeit von familienfreundlichen Strukturen in Theatern und ergänzt bestehende Forderungen der Bühnenmütter* und des Bundesverband Freie Darstellende Künste (BFDK) um eine analytische, policy-orientierte Praxisperspektive.
Das Frauenkulturbüro setzt sich als Sprachrohr für die Bedürfnisse von Künstler*innen ein. Durch gezielte Lobbyarbeit, die Entwicklung von Handlungspapieren und die Vermittlung zwischen Künstler*innen und politischen Entscheidungsträgern,trägt das FKB dazu bei, eine inklusive Gesellschaft mit geschlechtergerechten Arbeitsbedingungen zu schaffen.
Alexandra Schauer hat nach ihrem Studium der Soziologie und Philosophie in Jena und Paris unter anderem in New York, München sowie Basel geforscht und gelehrt. Im Wintersemester 2020/21 war sie Gastprofessorin für Kritische Gesellschaftstheorie an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Seit Oktober 2021 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sozialforschung in Frankfurt. In ihrer Arbeit, für die sie mit dem Dissertationspreis der Deutschen Gesellschaft für Soziologie sowie dem Wilhelm-Liebknecht-Preis der Stadt Gießen ausgezeichnet wurde, beschäftigt sie sich unter anderem mit dem Wandel der Öffentlichkeit wie auch mit dem sich transformierenden Verhältnis von Arbeit und Leben, von denen auch die Kultursphäre betroffen ist.
Foto: Anni Reeh
* Es handelt sich bei diesem Beitrag um den um Literaturnachweise ergänzten Abdruck meines Vortrages auf dem Symposium »Familienvereinbarkeit in den Performing Arts«, das vom Frauenkulturbüro NRW in Kooperation mit dem Theater Oberhausen, dem Theater Münster und der Universität Hildesheim organisiert wurde und am 4. und 5. Mai 2023 am Theater Oberhausen stattgefunden hat. Vorgestellt werden Überlegungen aus meinem Buch Mensch ohne Welt. Eine Soziologie spätmoderner Vergesellschaftung, wobei einzelne Passagen wortgleich dort zu finden sind. Vgl. Alexandra Schauer, Mensch ohne Welt. Eine Soziologie spätmoderner Vergesellschaftung, Berlin: Suhrkamp 2023. Der Titel geht auf ein Interview in der Zeit zurück. Vgl. Nils Markwardt, »Es gelingt nicht mehr, ein gemeinsames Bewusstsein zu entwickeln«, 28. Januar 2023, 〈https://www.zeit.de/kultur/2023-01/alexandra-schauer-soziologie-selbstoptimierung-sozialforschung〉, letzter Zugriff: 4. Juli 2023.
1 Nietzsche, Friedrich, Zur Genealogie der Moral, in: Kritische Studienausgabe, Band 5, München, Berlin, New York: dtv/de Gruyter 1999 [1887], S. 245–412, hier: S. 327.
2 Ebd., S. 317 f.
3 Vgl. Karl Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Erster Band, Marx-Engels-Werke, Band 23, Berlin 1967 [1867], S. 183.
ES GELINGT NICHT MEHR, EIN GEMEINSAMES BEWUSSTSEIN ZU ENTWICKELN SPÄTMODERNER WELTVERLUST ALS SOZIALPOLITISCHE HERAUSFORDERUNG*
»[A]lle Begriffe, in denen sich ein ganzer Prozess semiotisch zusammenfasst, entziehen sich der Definition«, schreibt Friedrich Nietzsche in die Genealogie der Moral, in der er den gesellschaftlichen Ursprüngen unserer Moralvorstellungen nachgeht; »definirbar« sei »nur Das, was keine Geschichte hat«.1 Nietzsche selbst erläutert das am Begriff der Strafe, indem er eine Reihe von Zwecken und Funktionen anführt, die in der Geschichte mit diesem verbunden waren – »Strafe als Abzahlung des Schadens«, »Strafe als Furchteinflössen« oder »Strafe als Compromiss mit dem Naturzustand der Rache«2. Dass sie sich nicht einfach definieren lassen, gilt aber auch für die Begriffe ›öffentlich‹ und ›privat‹, die im Laufe ihrer mehr als zweitausendjährigen Geschichte zahlreiche Umwertungen durchlaufen haben. Eine entscheidende Umdeutung ereignet sich im Übergang in die kapitalistisch-demokratische Gesellschaft der Moderne: Einerseits wird die Privatsphäre, die zuvor als eine Sphäre der Beraubung gegolten hatte, nun zu einem Ort ökonomischer und psychologischer Emanzipation aufgewertet, wobei ein neues Verständnis von Arbeit und Familie im Zentrum steht. Anderseits korreliert mit dieser Aufwertung des Privaten die Entstehung einer neuen Öffentlichkeit. Als ein Verständigungsraum trägt die neue Öffentlichkeit dazu bei, dass die Menschen ihre eigene Biografie im Spiegel der gesellschaftlichen Verhältnisse betrachten können. Dabei geht es um die Herausbildung eines gemeinsamen Bewusstseins insofern, als die Frage diskutiert wird, was am eigenen Leben ein kollektives Schicksal ist. Als Gestaltungsraum beansprucht diese Öffentlichkeit hingegen, über die Art und Weise der Vermittlung von Privatem und Öffentlichem zu entscheiden, und das schließt die Gestaltung des Verhältnisses von Arbeit und Familie, die im Zentrum des Symposiums Familienvereinbarkeit in dem Performing Arts steht, mit ein. Dabei lassen sich in der Geschichte der modernen Öffentlichkeit drei historische Antworten auf die Frage nach der Vereinbarkeit von Arbeit und Familien unterscheiden. Jede neue Antwort hängt mit dem Auftritt einer neuen gesellschaftlichen Klasse oder Schicht im Zusammenhang. Und jede neue Antwort hat sich in der Form eines politischen Gesellschaftsvertrages materialisiert.
Anliegen des Beitrages ist es, der Frage nach der Vereinbarkeit von Arbeit und Leben historische Tiefenschärfe zu verleihen, indem er sie im Lichte eines sich verändernden Verhältnisses von öffentlich und privat betrachtet. Er geht dafür in drei Schritten vor: Zunächst werden die strukturellen Veränderungen nachgezeichnet, in deren Folge die Vereinbarkeit von Arbeit und Leben überhaupt zu einem gesellschaftlichen Problem wurde. Sodann wird der Frage nachgegangen, wie aus dem gesellschaftlichen Problem eine politische Frage geworden ist. Abschließend wird der Blick auf die Gegenwart gerichtet, in der sich eine gegenläufige Bewegung vollzieht: Statt die Vereinbarkeit von Arbeit und Leben als eine politische Aufgabe zu betrachten, findet eine Individualisierung und Privatisierung des Problems statt. Die Geschichte, die im Folgenden über das sich verändernde Verhältnis von Arbeit und Leben erzählt wird, lässt sich auch als ein Drama in drei Akten begreifen: Der erste Akt berichtet von der modernen Trennung der Sphären von öffentlich und privat, wobei die Hauptrolle das Bürgertum spielt. Hauptakteur des zweiten Aktes ist die ›Klasse der doppelt-freien Lohnarbeiter‹3, die in ihren Interventionen an den Widersprüchen ansetzt, die aus der bürgerlichen Trennung zwischen öffentlich und privat hervorgehen. Im dritten Akt hat schließlich die zumeist aus Angestellten bestehende Mittelschicht ihren Auftritt. Auf sie, der es nicht mehr gelingt, ein gemeinsames Bewusstsein herauszubilden nimmt der Titel des Beitrages Bezug. Die Privatisierung der Frage der Vereinbarkeit von Arbeit und Leben ist die Folge. Als ein Wendepunkt in dramentheoretischer Hinsicht lässt sich dieser dritte Akt insofern verstehen, als es gerade der Versuch war, ein geteiltes Bewusstsein über ihre gesellschaftliche Situation zu erlangen, der allen Unterschieden zum Trotz das bürgerliche und proletarische Ringen in und um die Öffentlichkeit verband. Fangen wir also am Anfang an.
4 Otto Brunner, »Das ›Ganze Haus‹ und die alteuropäische ›Ökonomik‹«, in: Ders., Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 1968 [1958], S. 103–127. Vgl. auch: Richard von Dülmen, Kultur und Neuzeit. Erster Band: Das Haus und seine Menschen. 16.–18. Jahrhundert, München: Beck 1990.
5 Hannah Arendt, Vita Activa oder Vom tätigen Leben, München: Piper 2008 [1958], S. 48.
6 Psalm 84, 7.
7 Philippe Ariès, Die Geschichte der Kindheit, München: dtv 2014 [1960], S. 54.
8 Otto Ulbricht, Kindsmord und Aufklärung in Deutschland, München: Oldenbourg 1990, S. 181 f
9 Ebd., S. 217 f.
Abbildung I: Jan Brueghel der Ältere, Besuch im Pachthaus, um 1600. Bildnachweis: Artvee, Public Domain.
10 Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006 [1962], S. 88.
Abbildung 2: Paul Brating, Entwurf eines Bürgerhauses in Charlottenburg, um 1900. Bildnachweis: Architekturmuseum der TU Berlin, Inv. Nr. 29478, gemeinfrei.
11 Zu den folgenden vier Absätzen vgl. ebd., S. 86–121.
12 Christoph Martin Wieland, »Vorrede des Herausgebers« [zu: Der Teutsche Merkur], in: Ders., Von der Freiheit der Literatur, Band 2, Frankfurt/M., Leipzig: 1997 [1773], S. 895–910, hier: S. 900.
13 Friedrich H. Tenbruck, »Bürgerliche Kultur«, in: Ders., Die kulturellen Grundlagen der Gesellschaft. Der Fall der Moderne, Opladen: Westdeutscher Verlag 1990 [1986], S. 251–272, hier: S. 257.
Abbildung 3: Jacques-Louis David, Der Ballhausschwur, 1791. Bildnachweis: Musée Carnavalet, Histoire de Paris, Creative Commons Zero.
ERSTER AKT: FAMILIENVEREINBARKEIT ALS HERAUSFORDERUNG EINES AUFSTEIGENDEN BÜRGERTUMS
Dramentheoretisch kommt dem ersten Akt die Aufgabe der Exposition zu, wobei es um die Darlegung der aus der Vergangenheit stammenden und die Gegenwart bestimmenden Momente des dramatischen Handlungsstrangs geht. In einem Drama, das sich um die Frage der Familienvereinbarkeit dreht, bietet sich als Ausgangspunkt folglich eine historische Situation an, in der die Trennung von Arbeit und Leben, öffentlich und privat noch gar nicht vollzogen war. Eine solche Situation war durch das Leben im »Ganzen Haus«4 gegeben, das seit der Antike bis zur politisch-ökonomischen Doppelrevolution im 18. Jahrhundert die dominante Form der Organisation des häuslichen Lebens war [Abbildung 1]. Es handelt sich beim »Ganzen Haus« um eine Arbeits- und Lebensgemeinschaft, der neben der Kernfamilie, auch Großeltern und Tanten, Gesinde und Knechte, Tiere und Hof angehörten. Das Leben im »Ganzen Haus« war ganz in den Dienst der Überlebenssicherung aller seiner Mitglieder gestellt. Es handelte sich um einen Herrschaftszusammenhang, in dem der Familienvater als Hausherr über das Gesinde sowie als Mann über Frau und Kinder befahl. Die Vereinbarkeit von Arbeit und Leben konnte unter diesen Bedingungen noch nicht zum Problem werden, vielmehr fanden im »Ganzen Haus«, in dem beide Sphären unauflöslich verknüpft waren, alle Tätigkeiten – selbst die Sexualität – vor den Augen aller statt. Weil im Zentrum des häuslichen Lebens ein mühseliger Kreislauf sich wiederholender Tätigkeiten stand, durch den der Natur das Lebensnotwendige abgetrotzt werden musste, wurde das private Leben wesentlich als ein »Zustand der Beraubung«5 verstanden. Besonders deutlich tritt das in der antiken Unterscheidung zwischen dem Oikos als dem Reich der Notwendigkeit und der Polis als dem Reich der Freiheit hervor. Unter anderen Vorzeichen lebt die Deutung des Privaten als ein Zustand der Beraubung aber auch in der mittelalterlichen Vorstellung des Diesseits als ein »Jammertal«6 fort, dem das Jenseits als ein von Arbeit und Mühe befreiter Ort der Erlösung gegenübergestellt ist. Die Mühseligkeit des Lebens im »Ganzen Haus« zeigt sich auch im Umgang mit Kindern: Schon früh wurden diese wie kleine Erwachsene behandelt und als Arbeitstiere eingesetzt. Zudem war bis ins 18. Jahrhundert hinein die Praxis des Himmellassens von Kindern weit verbreitet: »Kinder, die man nicht behalten wollte, sterben zu lassen oder ihnen zum Sterben zu verhelfen«7, erschien oftmals als einziger Weg zur Sicherung der eigenen notdürftigen Existenz. In Preußen stellte der Kindsmord laut einer Kriminalstatistik aus den 1770er-Jahren das häufigste Morddelikt dar.8 Eine 1780 in Mannheim veröffentlichte Preisfrage zum Thema »Welches sind die besten ausführbaren Mittel, dem Kindermorde Einhalt zu thun?« erhielt 10-mal mehr Zuschriften als alle anderen Preisfragen aus jener Zeit.9 Das deutet auf die Dringlichkeit hin, die die Frage damals besaß.
Mit dem historischen Auftritt des Bürgertums findet in dieser häuslichen Konstellation eine doppelte Verschiebung statt. Einerseits führt die Herausbildung der bürgerlichen Gesellschaft zu einer räumlichen Trennung zwischen Arbeit und Leben. Anderseits geht diese »Verdopplung der Privatsphäre«10 mit einer Aufwertung beider Bereiche einher. Die Ökonomie wird fortan nicht mehr als ein Ort der mühseligen Arbeit angesehen, sondern als gesellschaftliche Sphäre, in der man sich durch seine eigene Tätigkeit seine gesellschaftliche Stellung erarbeiten kann. So gehört es zum Selbstbild der bürgerlichen Gesellschaft, dass in ihr nicht Herkunft und Tradition, sondern die Leistung des Einzelnen über die gesellschaftliche Stellung entscheiden soll. Im Zuge der Auslagerung der ökonomischen Existenzsicherung veränderte aber auch die zur Intimsphäre geschrumpfte Privatwohnung ihre Funktion. Das Private, das bisher als ein gesellschaftlicher Zwangszusammenhang galt, wird nun zu einer Sphäre freier Innerlichkeit aufgewertet. Es wurde als privates Refugium entdeckt, als ein Ort der Intimität und Vertrautheit, der jenseits der gesellschaftlichen Zwänge die freie Entfaltung der menschlichen Beziehungen ermöglichen soll. Die Entdeckung der Liebesheirat legt davon genauso Zeugnis ab wie die Aufwertung der Kindheit als zu schützender Bereich und der Wandel der Wohnformen. In den bürgerlichen Wohnungen entstehen erstmals Räume, die nur einzelnen Personen vorbehalten sind, damit sich diese dort in ihrer Individualität entfalten können [Abbildung 2]. Hintergrund dieser doppelten Aufwertung des Privaten zu einem Ort der ökonomischen und psychologischen Emanzipation bildet eine gesellschaftliche Erfahrung, die als das Kollektivschicksal des Bürgertums angesehen werden kann: Es handelt sich um die Erfahrung der Selbstständigkeit, deren ökonomische Grundlage die Privatautonomie11 bildet. Anders als im »Ganzen Haus«, dessen soziale Beziehungen vom Prinzip der Leibeigenschaft bestimmt waren, tritt das Bürgertum als freier und gleicher Käufer und Verkäufer von Waren auf. Es ist diese auf Besitz gründende Erfahrung der Unabhängigkeit, die an der Wurzel der neuen Bestimmung des Privaten liegt. Aus ihr erwächst der Anspruch, dass das Bürgertum in privaten Dingen fortan sein eigener Herr sein will, statt – wie bisher – einer fremden Macht zu unterstehen. Dem Privaten entsprungen, konnte der Anspruch, sich selbst die Gesetze geben zu wollen, nicht auf das Private beschränkt bleiben. Vielmehr erkannte das Bürgertum, dass sich seine neu entdeckte Freiheit nur in einer Gesellschaft verwirklichen ließe, die die dafür gemäßen Institutionen schafft. So ist im 18. Jahrhundert aus dem Geist der Privatheit eine neue Öffentlichkeit entstanden, die beginnt, Kirche und Staat, den bisher zentralen Institutionen öffentlicher Gewalt, ihre Rolle streitig zu machen. Dabei bildet sie eine neue gesellschaftliche Kommunikationsform heraus, die ihrerseits der Erfahrung als Marktteilnehmer nachempfunden ist. An die Stelle der Autorität der Ränge, die für die Kommunikation in der höfischen Gesellschaft bestimmend war, soll der freie und gleiche Austausch von Argumenten treten, wobei »der namenloseste Erdensohn«, wie Martin Wieland schreibt, genauso eine Stimme haben soll wie »der Präsident einer Akademie«.12
Sozialhistorisch lassen sich in der Geschichte der modernen Öffentlichkeit zwei Phasen unterscheiden, wenngleich diese länderspezifisch unterschiedlich stark ausgeprägt waren: Unter den Argusaugen des absolutistischen Leviathans hat sich die moderne Öffentlichkeit zunächst als ein Teil der Privatsphäre formiert, als ein Publikum von Privatleuten, das begann mit sich über sich selbst zu reden. Die zentralen Orte dieser neuen Öffentlichkeit, die sich als ein bürgerlicher Erfahrungsraum verstehen lässt, stellen die in jener Zeit an Bedeutung gewinnenden kulturellen Institutionen von Salon und Universität, Lesesaal und Bibliothek, Konzerthaus und Theater dar. Dass es die neue Erfahrung der Selbstständigkeit ist, die zunächst im Zentrum des gesellschaftlichen Austauschs steht, zeigt sich im Theater gleich in mehrerer Hinsicht: Baulich macht es sich an der Abwertung der Ränge und der Aufwertung des Parketts bemerkbar, das vom billigsten zum teuersten Ort im Theater wird. In den Produktionsbedingungen tritt es an der Verwandlung des Hofangestellten in den freien Künstler hervor. Gattungsgeschichtlich steht hierfür die Erfindung des bürgerlichen Dramas, in dem die äußere Fallhöhe des Ranges, die für das antike Drama bestimmend war, abgelöst wird durch die »innere Fallhöhe«13, die sich aus der moralischen Selbstständigkeit ergibt.
Die zweite sozialgeschichtlich relevante Phase stellt der Übergang der kulturellen zu einer politischen Öffentlichkeit dar. Dieser Übergang speist sich aus der Überzeugung, dass sich die Idee der Selbstbestimmung nur in einer Gesellschaft realisieren lässt, die die dafür notwendigen Institutionen schafft. So trat zur Idee privater Selbstständigkeit die kollektive der öffentlichen Selbstgesetzgebung hinzu. Emblematisch für diesen Übergang von der kulturellen zur bürgerlichen Öffentlichkeit sind die bürgerlichen Revolutionen in Frankreich und Amerika. Berühmt geworden ist der sogenannte Ballhausschwur während der Französischen Revolution, mit dem sich die Angehörigen der Nationalversammlung schworen, »sich niemals zu trennen, bis der Staat eine Verfassung hat« [Abbildung 3]. Im Zentrum des Ballhausschwurs stand also die Idee eines politischen Gesellschaftsvertrages. Der Gesellschaftsvertrag, den sich die bürgerliche Öffentlichkeit in dieser ersten Phase gab, lässt sich als liberaler Gesellschaftsvertrag beschreiben. Sein geistiger Ursprung stellte die moderne Aufwertung des Privaten dar. Ziel des liberalen Gesellschaftsvertrages war die Zurückdrängung der Macht der Kirche und des Staates, sodass sich die Privatsphäre als eine Sphäre privater Verfügung konstituieren konnte, in der der Bürger sein eigener Herr ist.
Bezieht man diese erste Phase der Öffentlichkeit auf den Gegenstand des Symposiums zurück, so wird ein doppelter Zusammenhang erkennbar: Erstens taucht die Frage der Familienfreundlichkeit überhaupt erst im Nachgang der Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft als Problem auf: Vor ihrer Entstehung waren Arbeit und Leben, Ökonomie und Familie, Privates und Öffentliches unauflöslich verknüpft. Die Familie stellte keinen besonders zu schützenden Bereich dar, sondern sie war eine Arbeits- und Überlebensgemeinschaft, in der jeder die ihm zugewiesene Aufgabe zu erfüllen hatte, auch die Kinder. Erst im Zuge der Aufwertung des Privaten wird die Familie und mit ihr die Kindheit als eine besonders zu schützende Sphäre entdeckt. Anderseits hat die bürgerliche Öffentlichkeit die aus der Trennung von Arbeit und Leben resultierende Frage der Vereinbarkeit beider Sphären zu einer privaten Angelegenheit erklärt: Der liberale Gesellschaftsvertrag zielt auf den Schutz der Privatsphäre als Sphäre privater Verfügung ab, das schließt die Aushandlung des Verhältnisses von Arbeit und Familien mit ein. Die bürgerliche Antwort auf das Auseinandertreten von Arbeit und Leben lag in der Etablierung einer Geschlechterordnung, in der sich die Verdopplung der Privatsphäre in Arbeit und Leben wie auch die Trennung zwischen öffentlich und privat wiederholte: Während der Mann in dieser Logik mit der Sphäre der Arbeit und des Öffentlichen identifiziert wurde, sollte die Frau ihre Geltungsstätte im Privaten finden, wobei die eigentliche Reproduktionsarbeit im bürgerlichen Haushalt oftmals an Hausangestellte ausgelagert wurde. Henrik Ibsen hat diese bürgerliche Antwort auf die Frage der Vereinbarkeit von Arbeit und Familie mit seinem Drama Nora oder Ein Puppenheim auf die Bühne gebracht. Indem er Nora am Ende des Stückes aus dieser rigiden Geschlechterordnung ausbrechen lässt, weist er zugleich auf die Widersprüche des liberalen Gesellschaftsvertrages hin.
Die rigide Geschlechterordnung ist jedoch nicht der einzige Widerspruch, der sich aus der bürgerlichen Antwort auf die Frage nach der Vereinbarkeit von Arbeit und Leben ergibt. Noch deutlicher tritt das Defizitäre des liberalen Gesellschaftsvertrages hervor, wenn man die Klasse der doppelt-freien Lohnarbeiter in das Bild mit einbezieht: Nicht nur hatte sich die Trennung von Arbeit und Familie, die im Zentrum der bürgerlichen Aufwertung des Privaten stand, in den unteren Schichten, die in völlig beengten Wohnverhältnissen lebten, noch gar nicht vollzogen. Zudem wies allein die Existenz des doppelt-freien Lohnarbeiters auf das Ideologische der Vorstellung bürgerlicher Selbstbestimmung hin. Dass die Möglichkeit der Erlangung der auf Besitz gründenden Privatautonomie keinesfalls für alle gleichermaßen gegeben ist, ist der Widerspruch, an dem die Arbeiterbewegung ansetzt, als sie die Bühne der Öffentlichkeit betritt. Das Resultat wird eine Neubestimmung des Verhältnisses von Arbeit und Leben durch einen sozialen Gesellschaftsvertrag sein. Wenden wir uns also dem Fortgang der Geschichte zu.
14 Vgl. Karl Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Erster Band, Marx-Engels-Werke, Band 23, Berlin 1967 [1867], S. 741.
15 Bertold Brecht, Die Dreigroschenoper, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2012 [1928], S. 109.
Abbildung 4: Postkarte »Arbeiter-Jugend! Wissen ist Macht!«, 1905. Bildnachweis: Archiv der sozialen Demokratie, 6/CARD000518, gemeinfrei.
Abbildung 5: Familie mit Kindern bei der Herstellung von Spielzeug, Radierung, um 1900. Bildquelle: Archiv der sozialen Demokratie, 6/FOTB005002, gemeinfrei.
16 Friedrich Engels, Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates, in: Marx-Engels-Werke, Band 21, Berlin 1962 [1884], S. 25–173.
17 Karl Marx, »Peuchet: vom Selbstmord«, in: Gesellschaftsspiegel. Organ zur Vertretung der besitzlosen Volksklassen und zur Beleuchtung der gesellschaftlichen Zustände der Gegenwart 7 (1846), S. 14–26, hier: S. 14.
18 Zu diesem Absatz vgl. Thomas H. Marshall, »Staatsbürgerrechte und soziale Klassen«, in: Ders., Bürgerrechte und soziale Klassen. Zur Soziologie des Wohlfahrtsstaats, Frankfurt/M., New York: Campus 1992 [1949], S. 33–94.
19 Vgl. François Ewald, Der Vorsorgestaat, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1993 [1986].
ZWEITER AKT: ZUR VERGESELLSCHAFTUNG DES PROBLEMS IN DER ARBEITERBEWEGUNG
Die Hauptakteure des zweiten Aktes stellen das vormalige Gesinde, die einfachen Handwerker und die von ihrem Land vertriebenen Bauern dar, die im Laufe des 19. Jahrhunderts im Zuge der Industrialisierung zur Klasse der doppelt-freien Lohnarbeiter zusammengeschlossen werden, wobei doppelt frei heißt: frei im rechtlichen Sinne und frei von Produktionsmitteln.14 Sie beginnen sich im langen 19. Jahrhundert zu einer Gegenöffentlichkeit zusammenzuschließen, die an den Widersprüchen des liberalen Gesellschaftsvertrages ansetzt. »Denn die einen sind im Dunkel / Und die andern sind im Licht. / Und man siehet die im Lichte / Die im Dunkeln sieht man nicht«15, lautet eine berühmte Passage aus der Dreigroschenoper von Bertold Brecht, der mit seinem epischen Theater die theatralische Reflexionsform dieser zweiten, von der Arbeiterbewegung bestimmten Phase der Öffentlichkeit geschaffen hat. Wie Brecht die blinden Stellen des bürgerlichen Dramas ins Licht der Öffentlichkeit rücken wollte, so ging es der Arbeiterbewegung darum, die vom liberalen Gesellschaftsvertrag unsichtbar gemachten Probleme auf die politische Tagesordnung zu setzen. Der Weg, den sie dabei eingeschlagen hat, lässt sich durchaus als ein Weg aus dem Dunkel des Privaten in das Licht der Öffentlichkeit verstehen.
Auch die proletarische Öffentlichkeit beginnt als ein kultureller Erfahrungsraum, dessen Zweck die gemeinsame Bewusstseinsbildung insofern war, als es um die Frage ging, was am Leben der Einzelnen als Ausdruck eines Kollektivschicksals zu verstehen war [Abbildung 4]. Hatte die bürgerliche Klasse als ihr Kollektivschicksal die Selbstständigkeit angesehen, so erkennt die Arbeiterbewegung, dass die Möglichkeiten zur Erlangung dieser Selbstständigkeit gesellschaftlich durchaus ungleich verteilt sind. Sie beginnt als ihr Kollektivschicksal die Lage des doppelt-freien Lohnarbeiters anzusehen, der, weil er nichts außer seiner eigenen Arbeitskraft besitzt, zum Verkauf derselben zu fast jedem Preis gezwungen ist. Statt allen gleichermaßen die Möglichkeit zu bieten, in den gesellschaftlichen Stand aufzusteigen, der den eigenen Talenten gemäß ist, trägt die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft – so die zentrale Erkenntnis der Arbeiterbewegung – zur Anhäufung von Reichtum auf der einen und Armut auf der anderen Seite bei. So sollte die soziale Frage, die als ein Strukturproblem der Gesellschaft angesehen wurde, zum zentralen Gegenstand der proletarischen Öffentlichkeit werden.
Die soziale Frage war es auch, die in den unteren Schichten das Verhältnis von Arbeit und Leben bestimmte. Zeitlich zeigt sich das daran, dass für sie nach einem Arbeitstag, der bis zu 16 Stunden dauerte, kaum Zeit für ein Privatleben blieb. Räumlich trat es an der Enge und Kargheit der Wohnverhältnisse hervor. Arbeiterfamilien lebten oftmals alle zusammen in einem Raum, wobei nicht selten zusätzliche Schlafgänger eingemietet waren. Privatheit als ein eigenständig zu schützender Bereich existierte für die unteren Schichten genauso wenig wie die vom Bürgertum geltende Geschlechterordnung hier Gültigkeit besaß: Sowohl Frauen als auch Kinder waren zur Mitarbeit gezwungen, um für den Lebensunterhalt sorgen zu können [Abbildung 5]. Weil die Arbeiterbewegung in der auf Besitz gründenden Privatautonomie nicht eine Bedingung ihrer Selbstständigkeit, sondern das Mittel ihrer Unterdrückung sah, hat sie sich in ihren politischen Kämpfen für eine Beschränkung der Privatsphäre als Sphäre privater Autonomie eingesetzt. Am deutlichsten wurde dieser Zusammenhang von Karl Marx und Friedrich Engels formuliert: Während Engels in seinem gleichnamigen Text die Familie als Ursprung des Privateigentums benennt,16 setzt sich Marx in seinen Schriften für die »Kritik der bestehenden Eigenthums-, Familien- und sonstigen Privat-Verhältnisse, mit einem Wort des Privatlebens«17 ein.
Auch wenn die Arbeiterbewegung keinesfalls immer so radikal war wie ihre Vordenker, so hat sie sich in ihren politischen Kämpfen doch für eine Neuordnung des Verhältnisses von Öffentlichem und Privatem eingesetzt. Wo diese Kämpfe erfolgreich waren, haben sie zu einer doppelten Erweiterung der Öffentlichkeit beigetragen. Einerseits wurden neue Gruppen zur Öffentlichkeit zugelassen, zuvorderst die Gruppe der Arbeiter selbst. Anderseits wurde deren Gestaltungsanspruch auf neue Sphären ausgeweitet. Vor allem zwei neue Rechte, die auf die Begrenzung der Privatsphäre als Sphäre privater Autonomie zielten, hat die Arbeiterbewegung erkämpft: Das industrielle Bürgerrecht, worunter vor allem das Tarifrecht, also das Recht auf die kollektive Aushandlung des Arbeitsvertrages zu zählen ist, schränkte die private Verfügungsgewalt des Unternehmers in der Fabrik ein. Die sozialen Bürgerrechte zielten hingegen auf eine Kollektivierung jener Risiken ab, die bisher – wie Arbeitslosigkeit, Krankheiten oder Unfälle – als private Risiken betrachtet wurden.18 Die Einführung beider Rechte lässt sich als Abschluss eines sozialen Gesellschaftsvertrages verstehen, der von der Überzeugung geleitet ist, dass soziale Verhältnisse politisch gestaltet werden müssen, damit die Gesellschaft überlebensfähig ist.19
Bezieht man den sozialen Gesellschaftsvertrag auf den Gegenstand des Symposiums zurück, so zeigt sich, dass durch ihn die Frage der Vereinbarkeit von Arbeit und Familie erstmals zu einem kollektiven, politischen Anliegen geworden ist: Einerseits war seine Einführung die Voraussetzung dafür, dass die Familie auch in den unteren Schichten zu einem geschützten Privatraum frei von Kinderarbeit und Überfüllung werden konnte, wobei der soziale Wohnungsbau eine entscheidende Rolle gespielt hat. Anderseits sind es die vom Wohlfahrtsstaat erlassenen Schutzregeln gewesen, allen voran das Verbot der Kinderarbeit, die Beschränkung von Arbeitszeiten und die Stärkung des Kündigungsschutzes, die im Alltag für eine Vereinbarkeit von Arbeit und Familien gesorgt haben. Als Modell dieser neuen Idee einer politisch zu erwirkenden Familienvereinbarkeit lassen sich die in jener Zeit entstandenen Großfabriken ansehen, die wie kleine Städte organisiert waren und neben Betriebswohnungen auch Betriebskindergärten, Berufsschulen und manchmal sogar eigene Krankenstationen enthielten.
Das bedeutet nicht, dass der soziale Gesellschaftsvertrag frei von Widersprüchen gewesen wäre. Mit Blick auf die Familienvereinbarkeit treten diese erneut besonders deutlich am Geschlechterverhältnis hervor: Der soziale Gesellschaftsvertrag war die Voraussetzung dafür, dass das bürgerliche Geschlechterarrangement auch in den unteren Schichten an Bedeutung gewann. Auch hier stand nun bald der Mann als Alleinernährer der Frau als Hausfrau gegenüber. Zudem griff der soziale Gesellschaftsvertrag nicht nur im Guten, also dort, wo es zu einer Verbesserung der Lebensbedingungen kam, sondern auch im Schlechten immer weiter in die Privatsphäre ein. Das Resultat dieser erhöhten Kontrolle war die Entstehung einer Disziplinargesellschaft.20 Es ist nicht zuletzt die Unzufriedenheit über die damit einhergehenden Normierungen des Privaten, die als eine Triebkraft der jüngsten Restrukturierung des Verhältnisses von öffentlich und privat gewirkt hat. Es handelt sich dabei um eine Entwicklung, die als Übergang von der Sozialkritik zur Künstlerkritik beschrieben worden ist. Während die Sozialkritik, deren klassischer Vertreter die Arbeiterbewegung war, sich für Gleichheit und soziale Sicherheit einsetzte, zielt die Künstlerkritik auf Werte wie Autonomie und Selbstbestimmung ab.21 Dass die Künstlerkritik eine solche gesellschaftliche Wirkung entfalten konnte, gründet in ihrer Vereinnahmung durch den Kapitalismus. Entstanden ist dadurch ein »progressiver Neoliberalismus«22, der an der Wurzel der jüngsten Restrukturierung des Verhältnisses von öffentlich und privat liegt. Wenden wir uns also dem dritten und letzten Akt zu, der uns in die Gegenwart führt.
20 Vgl. Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Zur Geburt des Gefängnisses, Frankfurt/M. 2005 [1975]: Suhrkamp.
21 Luc Boltanski und Eve Chiapello, »Die Rolle der Kritik in der Dynamik des Kapitalismus und der normative Wandel«, in: Berliner Journal für Soziologie 11 (4) (2001), 459–477.
22 Nancy Fraser, »Für eine neue Linke oder: Das Ende des progressiven Neoliberalismus«, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 62 (2) (2017), S. 71–76.
23 Ulrich Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1986, S. 122.
24 Vgl. Siegfried Kracauer, Die Angestellten. Aus dem neuesten Deutschland, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2001 [1929], S. 91.
25 Steffen Mau, Lebenschancen. Wohin driftet die Mittelschicht?, Berlin: Suhrkamp 2012, S. 204.
26 Cornelia Koppetsch, Cornelia, Die Wiederkehr der Konformität. Streifzüge durch die gefährdete Mitte, Frankfurt/New York: Campus 2013, S. 86.
27 Vgl. Luc Boltanski und Eve Chiapello, Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz: UVK 2003 [1999].
28 Vgl. Bröckling, Susanne Krassmann und Thomas Lemke (Hg.), Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen, Frankfurt/M: Suhrkamp 2000.
29 Vgl. Stephan Lessenich, Die Neuerfindung des Sozialen. Der Sozialstaat im flexiblen Kapitalismus, Bielefeld: transcript 2008, S. 96.
30 Ulrich Bröckling, Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2016 [2007].
31 G. Günter Voß und Hans J. Pongratz, »Der Arbeitskraftunternehmer. Eine neue Grundform der Ware Arbeitskraft?«, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 50 (1) (1998), S. 131–158.
32 Anja Röcke, Soziologie der Selbstoptimierung, Berlin: Suhrkamp 2021.
33 Alain Ehrenberg, Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2008 [1998].
34 Frauenkulturbüro NRW in Kooperation mit dem Theater Oberhausen, Theater Münster, Universität Hildesheim, Symposium »Familienvereinbarkeit in den Performing Arts« am 4. und 5. Mai 2023 am Theater in Oberhausen 〈https://www.symposium-familienvereinbarkeit.de/〉, letzter Zugriff: 4. Juli 2023.
35 Ebd.
36 Vgl. Helma Lutz, Vom Weltmarkt in den Privathaushalt. Die neuen Dienstmädchen im Zeitalter der Globalisierung, Opladen: Budrich 2007.
37 Vgl. Arlie Russell Hochschild, The Time Bind. Then Work becomes Home and Home becomes Work, New York: Metropolitan Books 1997.
DRITTER AKT: MITTELSCHICHT UND REPRIVATISIERUNG
Der zentrale Akteur des dritten Aktes stellt die zumeist aus Angestellten bestehende Mittelschicht dar. Ihre Entstehung ist insofern ein Resultat auch des sozialen Gesellschaftsvertrages, als dieser zu einem kollektiven »Fahrstuhl-Effekt« beigetragen hat, der »die ›Klassengesellschaft‹ insgesamt eine Etage höher«23 fahren ließ. Die Verwandlung der Klassengesellschaft des 19. in die Mittelschichtsgesellschaft des 20. Jahrhunderts kann einerseits als ein Prozess der Verkleinbürgerlichung verstanden werden, wobei soziale Ungleichheit nicht an Bedeutung verlor, jedoch in der Selbstwahrnehmung aufgrund der allgemeinen Wohlstandssteigerung in den Hintergrund trat. Anderseits ging diese Homogenisierung von Lebenslagen mit einer Pluralisierung von Lebensstilen einher: In der Folge gelang es der Mittelschicht immer weniger, ein gemeinsames Bewusstsein ihrer gesellschaftlichen Situation auszubilden. Siegfried Kracauer, der diese Tendenz bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts unter den Angestellten beobachtete, hat diesbezüglich von einer ›geistigen Obdachlosigkeit‹ gesprochen, die auf einer radikalen Verkennung der eigenen Situation beruht.24 Aktuelle soziologische Studien sprechen von »einer der hartnäckigsten optischen Täuschungen«25 oder von einem hohen Maß an »Realitätsverleugnung«.26
Als Merkmal der geistigen Obdachlosigkeit sah Kracauer die Unfähigkeit an, sich in der Gesellschaft zu verorten. Das Resultat stellt ein ostentativer Individualismus dar, der individuelle Kraftanstrengung am Werk sieht, wo es in Wirklichkeit gesellschaftliche Kräfte sind, die über das Schicksal des Einzelnen entscheiden. Tatsächlich meinen viele Angehörige der Mittelschicht, dass sie ihren sozialen Aufstieg ihrer eigenen Leistung verdanken, während es in Wirklichkeit der kollektive Fahrstuhleffekt gewesen ist, der jenen möglich gemacht hat. Dieser der gesellschaftlichen Lage der Mittelschicht entsprungene ostentative Individualismus hat durch die jüngste Restrukturierung der ökonomischen Ordnung weiter an Bedeutung gewonnen. Es weht ein neuer Wind im Kapitalismus, der von dem Einzelnen nicht mehr nur Pflichterfüllung und Disziplin, sondern zunehmend Kreativität, Eigenverantwortung und Selbstsorge verlangt.27 In der Folge setzt sich ein gesellschaftlicher Regierungsmodus durch, der nicht mehr als Begrenzung der Freiheit auftritt, sondern im Modus der Freiheit agiert. Allerdings handelt es sich bei der gegenwärtigen Freigabe von Gestaltungsräumen nicht um die Freiheit, zu tun und zu lassen, was man will. Vielmehr zielt auch die gegenwärtige Regierungspraxis auf die Hervorbringung gesellschaftskonformer Verhaltensweisen ab.28
Entscheidend für ein Verständnis der Gegenwart ist, dass es im Zuge der jüngsten Vermählung des ostentativen Individualismus mit einem Kreativkapitalismus zu einer fortschreitenden Ökonomisierung des Sozialen kommt. Durch diese werden nicht nur bestimmte Errungenschaften des sozialen Gesellschaftsvertrages wie Arbeitszeitbegrenzungen und Kündigungsschutz rückgängig gemacht. Sie trägt zudem zu einer umfassenden Individualisierung von Strukturproblemen der Gesellschaft bei. Man kann diese Entwicklung auch als Verabschiedung eines neoliberalen Gesellschaftsvertrages verstehen, dessen Konsequenz der tendenzielle Übergang von der öffentlichen zur privaten Sicherheit ist. Einerseits werden dabei Werte wie Kreativität und Eigenverantwortung einseitig für gesellschaftliche Bedürfnisse in den Dienst genommen; anderseits wird auf deren Nichteinhaltung mit individuellen Schuldzuschreibungen und sozialer Ächtung reagiert.29 Als die diesem Regierungsmodus entsprechende Sozialfigur ist das »unternehmerische Selbst«30 anzusehen, das als »Arbeitskraftunternehmer«31 für sein Auskommen, als Aktivsubjekt für seine Gesundheit und als private Ich-AG für die Vereinbarkeit von Arbeit und Leben zu sorgen hat. Es handelt sich bei dieser Individualisierung von Strukturproblemen der Gesellschaft um eine Entwicklung, die sich auch als eine fortschreitende Entgrenzung des Privaten begreifen lässt: Mit Blick auf die Arbeit zeigt sich das am veränderten Zugriff auf die von ihr getrennte Privatsphäre. Nicht nur läuft der Bedeutungsverlust regulierter Beschäftigungszeiten auf eine fortschreitende Vermischung von Arbeits- und Lebenszeit hinaus, wobei es zur Aufgabe des Einzelnen wird, zu vermitteln, wie er oder sie die Abholzeiten im Kindergarten mit den abendlichen Probenterminen vereinbaren kann. Zusätzlich verstärkt wird dieser Druck auf den Einzelnen durch den Bedeutungsverlust des Normalarbeitsverhältnisses, wie es am Theater durch das feste Ensemble verkörpert wurde: Die relative Planungssicherheit, die die Festanstellung bot, wird abgelöst durch eine beständige Suche nach dem nächsten Engagement, für die im übervollen Terminkalender neben Proben- und Familienzeiten auch noch ein Platz gefunden werden muss. Im Verhältnis zur Öffentlichkeit zeigt sich die fortschreitende Entgrenzung des Privaten einerseits an den sinkenden Mitgliederzahlen von Parteien und Gewerkschaften, was zumeist unter dem Stichwort der Postdemokratie verhandelt wird. Anderseits tritt sie an der Ausbreitung einer politischen Rhetorik der Alternativlosigkeit hervor, durch die die fortschreitende Privatisierung von Strukturproblemen der Gesellschaft vorangetrieben wird. Das Motto für diese Politik hatte bereits zu Beginn des Aufstiegs des Neoliberalismus Margaret Thatcher geliefert, als sie davon sprach, dass sie keine Gesellschaft, sondern nur Individuen kenne. Als das Tragische der gegenwärtigen Vergesellschaftung könnte sich dabei erweisen, dass der neoliberale Gesellschaftsvertrag tatsächlich Individuen hinterlässt, die sich auch dann noch für ihr Schicksal verantwortlich fühlen, wenn sie es am wenigsten waren, die darüber entscheiden konnten. In einer Gesellschaft, in der Kreativität und Eigenverantwortung zu den zentralen Leitwerten geworden sind, erscheint es so, als ob es kaum eine gesellschaftliche Situation gäbe, in der der Einzelne nicht eine individuelle Wahl treffen müsste. Die Herausforderung des damit einhergehenden Entscheidungszwangs besteht darin, dass man so viel falsch machen kann. Weil es dem spätmodernen Menschen immer schwerer fällt, zwischen dem zu unterscheiden, was er beeinflussen kann, und dem, was sich seiner Handlungsmacht entzieht, laboriert er nicht mehr an der Gesellschaft, sondern an sich selbst. Statt den Fehler für den eigenen Misserfolg auch in einer Gesellschaft zu suchen, die ihre Strukturprobleme individualisiert, schiebt er sich die Verantwortung für seine Lage selbst zu. Das legt als Reaktion, solange er die Kraft dazu hat, eine verstärkte Anpassung an die Gesellschaft nahe. So ist in der Gegenwart die Arbeit am Selbst mit dem Ziel der Optimierung der Leistungsfähigkeit von Körper und Geist zu einem eigenen Absatzmarkt geworden, der von Ratgeberliteratur über Trainingsprogramme bis zum Neuroenhancement die unterschiedlichsten Sparten und Mittel umfasst.32 Wenn ihm die Kraft dazu jedoch ausgeht, dann schlägt die beständige Arbeit am Selbst in Verzweiflung um. Vom Leiden an der eigenen Unzulänglichkeit in die Krankheit getrieben, verwandelt sich das Allzuständigkeitsgefühl des entgrenzten in die Ohnmachtserfahrung des »erschöpften Selbst«33. Die Zunahme von psychischen Erkrankungen wie Burn-out und Depressionen, die Alain Ehrenberg in seinem gleichnamigen Buch als die Krankheit einer Gesellschaft versteht, deren Leitwerte Verantwortung und Initiative sind, legt davon Zeugnis ab.
Dass es in der Spätmoderne zu einer Individualisierung von Strukturproblemen kommt, darauf deutet auch der Einladungstext zum Symposium Familienvereinbarkeit in dem Performing Arts hin: Durchaus treffend werden darin die gegenwärtigen Herausforderungen bei der Vereinbarkeit von Arbeit und Leben in den Performing Arts aufgezählt: »Proben bis 22 Uhr, permanent Reisen, Arzttermine für die demente Mutter wahrnehmen, eine familienfreundliche Gästewohnung finden, Schulanmeldung für sechs Wochen stellen«.34 Die Herausforderung, die verschiedenen Aufgaben unter einen Hut zu bekommen, scheint dabei eine bloß individuelle zu sein. So ist dort auch von der »Sprachlosigkeit und Einsamkeit«25 die Rede, die mit dem Thema Elternschaft und Kunst verbunden ist. Die Individualisierung von Strukturproblemen der Gesellschaft hat nicht nur in der Kultursphäre dazu beigetragen, dass sich zwei dominante Antworten auf die Frage der Vereinbarkeit von Arbeit und Familie herausgebildet haben: Wer es sich leisten kann, weil er Direktor eines Theaters, Professorin an einer Universität oder Leiterin einer Kulturinstitution ist, greift auf ein Mittel aus der Frühzeit der bürgerlichen Gesellschaft zurück, indem er Care-Aufgaben an Au-pair-Mädchen, Hausangestellte oder private Pflegekräfte ausgelagert.36 So ist eine neue Dienstmädchenfrage entstanden, die – statt eine Lösung für das Problem zu liefern – die Frage der Vereinbarkeit von Arbeit und Familie in sogenannten Care-Ketten an sozial schlechter Gestellte auslagert. Für jene, die auf diese ökonomische Lösung nicht zurückgreifen können, geht die Privatisierung hingegen mit einer kräftezehrenden Doppelbelastung einher, die zusätzlich dadurch verstärkt wird, dass der Leistungsdruck im flexiblen Kapitalismus sowohl im Privaten als auch auf der Arbeit gestiegen ist.37
Ziel des kurzen Durchgangs durch die Geschichte war es, zu zeigen, dass die Individualisierung der falsche Weg ist: Lösen ließen sich die Probleme, die sich gegenwärtig bei der Vereinbarkeit von Arbeit und Leben stellen, nur, wenn man sie als das erkennt, was sie sind: Strukturprobleme des spätmodernen Kapitalismus, die nach einer politischen Antwort verlangen. In diesem Sinne ist zu hoffen, dass es dem Symposium ebenso wie den Modellprojekten in Oberhausen und Münster gelingt, einen Beitrag zur Durchbrechung der im Einladungstext erwähnten »Sprachlosigkeit und Einsamkeit« zu leisten, sodass eine gemeinsame Bewusstseinsbildung wieder möglich wird.
Alexandra Schauer