Die vertragliche Situation von Bühnenangehörigen hat Auswirkungen darauf, dass mehr Equality oder Equity im Kulturbetrieb überhaupt möglich werden. Als Präsidentin der GDBA hast du also eine wichtige Position. Eure Organisation ist ja auch schon wahnsinnig alt – wie würdest du den Istzustand beschreiben, wenn du auf das Thema Vereinbarkeit von Care-Work und künstlerischen Berufen guckst?
Das größte Problem ist, dass der Arbeitgeber die nahezu vollständige Verfügbarkeit über die Arbeitnehmer:innen hat – in der Zeiteinteilung und in der künstlerischen Sichtbarkeit. Die künstlerische Sichtbarkeit ist für alle, aber besonders für Eltern eine wichtige Währung. Sie wollen nicht benachteiligt werden, wenn sie in Elternzeit waren oder weil sich der Körper verändert hat. Da das Planungssystem am Theater auf der Spontaneität der Mitarbeitenden aufbaut, ist es im Zusammentreffen mit kranken Kindern und dem bundesweiten Mangel an Betreuungspersonen eine Mischung aus Nitro und Glyzerin – das macht zwangsläufig PENG!
Die Großzahl der Beschäftigten arbeitet mit dem Vertragswerk NV Bühne Sonderregelung Solo. Darin sind keine Arbeitszeiten geregelt, es gibt nur eine Nachtruhe von elf Stunden und eine Pause von vier Stunden vor einer Vorstellung. Wann die Arbeitszeit liegt, entscheidet der Arbeitgeber quasi jeden Tag neu: Man bekommt einen Tagesplan um 14 Uhr, dann weiß man, wie am nächsten Tag geprobt wird. Kernzeiten von 10–14 und 18–22 Uhr haben sich eingebürgert, aber das macht es nicht wesentlich besser. Wer bezahlt die Betreuung, wenn du um 18 Uhr probst? Wer bezahlt sie, wenn du samstagmorgens probst? Wir spielen an Feiertagen und Sonntagen. Aktuell bekommen wir noch nicht mal einen ersatzfreien Tag für das Arbeiten an Feiertagen. Völlig irre. Das bedeutet, wenn deine Kinder Ostereier suchen, bist du im Theater. Wenn du denkst, ›Gut, dann kann ich ihnen versprechen, dass wir an einem anderen Tag frei haben und was zusammen unternehmen‹ – nein, kannst du nicht.
Warum existiert diese Vertragsform 2022 überhaupt noch? Wenn ich mir andere Betriebe angucke, gibt es ja schon ganz andere Konzepte, ganz andere Lösungen. Es gibt viele Berufe und Arbeitsformen, wo Abendeinsätze oder Einsätze auf längere Zeit am Stück verlangt werden – zum Beispiel auf Messen oder bei Expeditionen. Aber es gibt schon viele Vertragsformen, die zeigen, dass sich andere Rhythmen finden lassen.
Das ist eine gute Frage. Die Gewerkschaften waren lange nicht stark genug, um ihre Forderungen durchzusetzen. Gleichzeitig sahen viele Beschäftigte keinen Sinn darin, Mitglied in einer Gewerkschaft zu sein. Und über allem schwebte der Geist der Theaterfolklore: ›Am Theater ist das halt so. Wenn du das änderst, machst du das Theater kaputt und bist ein Spießer.‹ Das war jahrelang eine ungute Mischung, die viel Leid für die Beschäftigten gebracht hat. Bis heute sind die gewerkschaftlichen Themen bei vielen auch mit Scham verbunden.
Und das ist ja nur die Stufe eins für die Festangestellten. Ihr kümmert euch ja auch um freie Mitarbeitende, die temporär für eine Probenphase von acht bis zwölf Wochen an einem Ort sind, an dem sie nicht leben, wo sie die Kinderbetreuung entweder in ihrem Heimatort oder in einer Stadt, die sie nicht kennen, organisieren müssen.
Ja, das stimmt. Die gastierenden Künstler:innen teilen sich in zwei Gruppen auf: die Leute mit Werkvertrag, (beispielsweise Regie, Ausstattung oder Choreografie) und die abhängig Beschäftigten – meist die Bühnendarsteller:innen. Alle eint, dass sie eine Wohnung brauchen, die groß genug ist, dass eine Familie mitreisen könnte, oder dass sie in sechs bis acht Wochen Probenphase auch ab und zu nach Hause fahren müssen. Es gibt bundesweit noch keinen verbindlichen Modus, wie man mit Kinderbetreuung bei Gästen umgeht. Da hätten sich die Theater auch ohne Druck der Verbände oder Gewerkschaften längst eine annehmbare Infrastruktur zulegen können. Mit unseren Sozialpartnern, also der Arbeitgeberseite, verhandeln wir aktuell über die Arbeitsbedingungen von abhängig beschäftigten Gästen.
Du hast gerade gesagt, ihr seid in Gesprächen mit euren Sozialpartnern. Habt ihr Ziele, die ihr bis zu einem bestimmten Zeitpunkt erreichen wollt?
Wir haben ein großes Ziel und das ist eine grundlegende Reform des NV Bühne. Dieses Ziel teilt sich auf in viele Etappensiege wie verbesserte Bezahlung, verbesserte Arbeitszeiten, Planbarkeit, Schutz vor Nichtverlängerung und so weiter. Ich persönlich habe ziemlich Druck auf dem Kessel, weil meine Legislaturperiode nur vier Jahre dauert und ich so viel wie möglich in dieser Zeit erreichen will. In der Verhandlungsrealität angekommen, hat sich gezeigt, wie komplex die einzelnen Etappen sein können, wenn man nachhaltig gute Lösungen finden will. Auf der horizontalen Ebene muss alles für die unterschiedlichen Sparten passen, auf der vertikalen Ebene muss es vom Landestheater bis zum A-Haus funktionieren.
Auch in der Pandemie hat sich gezeigt, dass die von den Konsequenzen der Gleichzeitigkeit von Beruf und Care-Arbeit am meisten betroffenen Gruppen am wenigsten Zeit haben, die Zustände zu verändern. Ich würde gerne noch mal über die nachwachsende Generation sprechen, weil du gerade schon angesprochen hast, dass unsere Mitglieder uns so langsam wegfallen. Das Nachwuchsproblem ist wahrscheinlich bei vielen Vereinen und Netzwerkorganisationen ein Thema. Hast du den Eindruck, die nachwachsende Generation weiß, dass es euch gibt? Kommen genügend nach oder würdest du dir wünschen, dass die jungen Menschen, die jetzt in die Kunst, also in künstlerische Berufe kommen, sich über diese Möglichkeiten mehr bewusst wären?
Wir haben kein Nachwuchsproblem, wir wachsen wie Efeu. In den drei Jahren, seit ich Präsidentin bin, haben wir über 3000 neue Mitglieder bekommen. Wir sind aktuell fast 7000. Es ist die Aufgabe der Gewerkschaften, aber auch der Hochschulen ein Informationsangebot für Studierende zu schaffen. An den Hochschulen wird auf Exzellenz ausgebildet, aber es gibt viel zu wenig Branchenkunde. Dahinter steht die Frage, wie man in dem Beruf gesund alt werden kann. In den Lehrplänen müsste mehr Branchenkunde vorgesehen sein und die Dozent:innen bräuchten auch dringend ein nachhaltiges Update. Wir planen, demnächst dafür Angebote zu schaffen.
Was mich noch interessiert, ist das Thema künstlerische Freiheit, denn das zieht sich ja durch die ganze Kunstpraxis, aber natürlich auch durch die Lehre an den Hochschulen – dieses irgendwie nicht enden wollende Faszinosum vom Genie in der Kunst, das nach wie vor über allem schwebt. Das hat ja viel mit Narration und Theorien zu tun, die wir auch an den Hochschulen wiederholen, und es scheint immer noch sehr beständig zu sein.
Ich würde das auch mit zur Theaterfolklore zählen. Die Freiheit der Kunst, Artikel 5 Absatz 3, bezieht sich unserer Auffassung nach auf Zensur auf der Bühne oder darauf, dass eben keine Zensur stattfinden darf. Das heißt, die Kunst darf alles. Grenzwertigkeit von Kunst, das soll dieser Artikel 5 Absatz 3 schützen. Aktuell ist der Stakeholder für die Freiheit der Kunst aber der Intendant, die Intendantin. Zum Beispiel im kuratorischen Auswahlverfahren von Schauspielerinnen und Schauspielern. Das betrifft auch Leute, die Maskenbildner:innen sind. Obwohl sie immer ganz normal ihre Arbeit machen, haben auch sie diese Verträge, die jährlich nicht verlängert werden können – aus künstlerischen Gründen. Und künstlerische Gründe sind nicht nachweisbar. Auch vor Gericht nicht. Jedes Jahr können aus künstlerischen Gründen Verträge nicht verlängert werden, und bei jedem Intendanzwechsel können alle NV-Bühne-Mitglieder ungeachtet ihrer sozialen Lage rausgeschmissen werden. Da gibt es ein sogenanntes Anhörungsgespräch, wo man angehört wird und noch mal um sich werben kann. In den meisten Fällen ist das eine Farce, weil die Theaterleitung sich bereits entschieden hat. Es gibt noch nicht mal Abfindungen, die es der Arbeitgeberseite etwas schwerer machen würden. Und dann kannst du dir ein neues Engagement suchen und deine Kinder aus der Kita in Göttingen nehmen, weil du beschlossen hast, nach Berlin zu ziehen. Für die Familie ist es eine enorme Belastung, und es geht auch immer mit einem beschädigten Selbstwertgefühl einher. Die Freiheit der Kunst steht also allein dem Intendanten, der Intendantin zu und nicht der künstlerischen Belegschaft, und das halten wir für fragwürdig.
Gibt es noch andere Akteur:innen, die du dir wünschen würdest? Wir haben über euch, über Sozialpartner, über Theater, über Einzelpersonen gesprochen. Aber gibt es noch andere Player, von denen du dir Unterstützung wünschen würdest, zum Beispiel von der Kommunalpolitik?
Ja, gibt es. Zum einen natürlich die Träger der Theater. Sie sind mitverantwortlich für die Arbeitsbedingungen, die dort herrschen. Sie müssen hingucken und Fragen stellen, die Theaterleitungen dazu ermutigen, neue Wege zu gehen – eben Teil der Lösung sein und nicht Teil des Problems. Auf der anderen Seite erwarte ich mindestens von allen NV-Bühne-Angestellten und abhängig beschäftigten Gästen, dass sie Mitglied in einer Gewerkschaft sind, denn alle profitieren von unseren Ergebnissen, sogar gut bezahlte Promis bekommen Tariferhöhungen und die wurden eben von den Gewerkschaften ausgehandelt.
LISA JOPT ist seit 2021 geschäftsführende Präsidentin der GDBA. Sie ist die erste Frau in diesem Amt und steht nebenbei als Schauspielerin regelmäßig vor der Kamera. Bis 2010 studierte sie Schauspiel an der HMT in Leipzig und gründete 2015 gemeinsam mit der damaligen Regieassistentin Johanna Lücke das ensemble-netzwerk, ein Verein, der sich für die Verbesserung der Arbeitsbedingungen rund um die Landes-, Stadt- und Staatstheater einsetzt. 2018 initiierte sie außerdem gemeinsam mit Nicola Bramkamp die Konferenzreihe Burning Issues – performing arts & equality.