Ziel dieser Studie ist es, den Status quo von Care-Work in Verbindung mit Theaterarbeit zu erfassen. Wo stehen wir in Sachen Vereinbarkeit von Familie und Beruf, wenn wir uns die Theaterlandschaft angucken? Welche Problemlagen gibt es und lassen sie sich kategorisieren? Welche Lösungsansätze sind in den Theatern möglich und was wird bereits umgesetzt? Wie gehen Sie an ihrem Haus damit um?1
Ich glaube, dass man als Erstes die Ausgangssituation beleuchten muss: Wo kommt man her? Da muss man sagen, dass Theaterarbeit für das Thema Familienfreundlichkeit extrem ungünstig ist – das liegt in der Natur der Sache.
Privat habe ich selbst viel familiäre Erfahrung und weiß, dass ein regelmäßiger Beruf, wo man vorausschauend weiß, dass man sein Kind um halb vier oder vier in der Kita abholen kann, hilfreich ist. Das Theater ist sprunghaft. Das heißt erst mal, es gibt viel Abendarbeit, die auch je nach Spielplan wechselt, und das betrifft nicht nur Schauspielerinnen und Schauspieler, sondern auch die anderen Mitarbeitenden. Es gibt keine Verlässlichkeit. Andererseits könnte man sagen, dass sich natürlich auch Räume auftun. Schauspielerinnen und Schauspieler, vor allem in größeren Häusern, haben große Zeiträume, wo sie überhaupt nicht proben, wo sie nur spielen. Das ist in kleinen Häusern aber anders und schwieriger. Das ist das eine. Das andere ist, dass Homeoffice in einem Beruf, wo es eigentlich um Begegnung, um Anwesenheit geht, auch nichts Naheliegendes ist. Dazu kommt, dass dadurch, dass wir Kunst machen, sich Dinge permanent ändern. Theater ist abhängig von den Individuen und es gibt ununterbrochen neue Situationen und Krisen, und Menschen werden natürlich auch mal krank.
Wir haben in langer Arbeit am DT2 gemeinsam mit der Frauenvertretung einen Frauenförderplan entwickelt, den ich ganz gut finde. Natürlich ist Familienfreundlichkeit darin auch ein Thema. Dennoch bleibt festzuhalten, dass auch so ein Plan Enttäuschungen produzieren kann. Denn als Intendant kann ich natürlich leicht sagen, ich bin für Familienvereinbarkeit, aber die Umsetzung gestaltet sich dann schwierig. Ich finde, man sollte nicht nur Theorien vor sich hertragen, sondern dafür sorgen, dass man im Theateralltag konkrete Schritte macht. Das ist die Ausgangssituation. Jetzt kann man sich fragen, wie man dieser begegnet. Was Familien hilft, ist zum einen, wenn man mit weiblichen Ensemblemitgliedern, die in einer bestimmten Situation sind, weniger Produktionen vereinbart. Das ist in einem großen Haus leichter zu leisten als in einem kleinen oder mittleren. In Drei-Sparten-Häusern sind die Schauspielbereiche oft geschützter, weil sie gar nicht so oft spielen dürfen oder können. Guter Wille und Zugewandtheit sind essenziell. Es hilft weder Eltern noch einem Haus, wenn da eine Intendantin oder ein Intendant sitzt und das Thema Familienvereinbarkeit als nicht relevant einstuft und permanente Verfügbarkeit einfordert. Eine Möglichkeit wäre, die Notwendigkeit der Anwesenheit ein bisschen einzugrenzen.
Ich möchte die Schauspieler:innen, Teams und Mitarbeitenden auf ihrem Weg, tolles Theater zu erschaffen, begleiten und deshalb gute Rahmenbedingungen schaffen. Es ist mir ein Anliegen, Wünsche im Hinblick auf Gastierurlaub, Drehs, Rollen- oder Stückauswahl zu ermöglichen und einen Ort des Miteinanders zu schaffen. Dennoch macht der Mehrklang der Anforderungen von Drehs, Gastierurlaub et cetera bei gleichzeitiger Forderung nach Familienvereinbarkeit das Leben eines Intendanten (und der Disposition) nicht einfacher. Dann sind wir für die Genehmigung von Filmen und für die Familienfreundlichkeit zuständig. Am Schluss sind wir wie Zauberlehrlinge und kriegen nichts mehr hin. Das ist leider eine Gefahr, die die Theater, wenn sie gutwillig sind, auch in eine Sackgasse führen kann.
Das Hauptanliegen, Familienleben und Beruf zusammenzubringen, ist auch eine gesellschaftliche Aufgabe. Die Stadt, der Staat kann was machen, aber der Arbeitgeber ist genauso in der Pflicht. Als solcher muss man Teilzeit fördern. Gleichzeitig muss man sich im Klaren sein, was das für Vollzeitkräfte bedeuten kann – meistens mehr Arbeit. Diese Situation muss man mit Blick auf alle Mitarbeitenden und das Ensemble ausbalancieren, sodass sich nicht das Gefühl von ungerechter Behandlung einschleicht. Das hat natürlich wieder mit der Anzahl der Mitarbeitenden, aber vor allem auch mit transparenter und intensiver Kommunikation nach innen zu tun.
Familienfreundlichkeit heißt auch, dass aufgefangen werden muss, wenn Kinder oder Mitarbeitende selbst krank sind. Das sind ganz normale und selbstverständliche Vorgänge, die aber für die Arbeit auf der Bühne und auch in den Büros der Verwaltung und der Öffentlichkeitsarbeit oder an der Kasse Konsequenzen haben. Unsere Arbeit ist schwer reduzierbar im Rahmen der Erwartungshorizonte der Öffentlichkeit und der Politik. Wir müssen die Karten verkaufen. Wir müssen abends spielen. Wir brauchen den Inspizienten, die Inspizientin und so weiter.
Ich muss als Intendant sehr gut und proaktiv kommunizieren, Familienfreundlichkeit fördern wollen, damit die Mitarbeitenden, die den Schritt machen, mich über ihre Situation ins Vertrauen zu ziehen, kein schlechtes Gewissen oder Angst vor Nichtverlängerung haben. Das bedeutet, die Bedürfnisse aller Mitarbeitenden immer wieder in den Blick zu nehmen. Man muss eine Stimmung dafür schaffen, die nicht aktionistisch vorwärtsstürmt, aber als Partner gut begleitet.
Dann geht es auch darum, Bedingungen im Betrieb zu schaffen. Zum Beispiel hat das DT jetzt einen Ruheraum, wo ein Kind während der Proben bleiben kann. Es kann bei uns auch mit auf die Probe, aber – je nachdem – muss es währenddessen betreut werden. In den Ruheraum können auch ältere Kinder und man kann ihn zudem zwischen den Proben nutzen.
Darüber hinaus ist das Thema Gage wesentlich. Gerade zu Anfang sind die Gagen trotz der Erhöhung3 relativ niedrig und damit ist das Thema Babysitterbezahlung und Betreuungskosten schwierig. Ich hatte diese Situation mit einer jungen Schauspielerin. Sie hatte eine kleine Produktion und hat 600 Euro für den Babysitter ausgegeben. Dann kam sie zu mir und wir haben Förderanträge gestellt. Sie hat die Kosten dokumentiert und nach zwei Monaten hat sich die Bündelung dieser Kosten aufgelöst, da es nur noch fünf Vorstellungen waren und sich somit die Kosten wieder reduziert hatten. Ich wollte das strukturell lösen, also ein System des Umgangs dafür entwickeln, aber das war in dem Moment nicht möglich. Von daher entschied ich über eine Gagenerhöhung von 300 Euro – mehr als vergleichbare Kolleg:innen erhielten. Sie ist alleinerziehend. Das bedeutet häufig großen Stress, weil der andere Elternteil oft völlig ausfällt. Meine Erfahrung ist, dass die meisten getrennten Paare die Kinder nicht solidarisch, also auf Augenhöhe, betreuen. Meistens pendelt es zur einen Seite hin. Für solche Fälle gibt es kein System. Im Endeffekt nutze ich dann verschiedene Instrumente wie zum Beispiel das der Gagenerhöhung, weniger Neuproduktionen, proaktive Kommunikation und persönliche Begleitung, die Möglichkeit eines Sabbatjahrs und schon frühzeitige Unterstützung in der Elternzeit. Im darauffolgenden Jahr hatte sie wenige neue Rollen und jetzt geht es eigentlich völlig reibungslos. Sie ist auch schon in der nächsten Gehaltsstufe und so weiter.
Letzter Punkt zum Thema Kunst: Es gibt eine Tendenz in künstlerischen Teams, dass in der Produktionsphase von morgens bis nachts gearbeitet wird und nach der Premiere alle weg sind. Die Assistentinnen und Assistenten aber bleiben und arbeiten weiter. Die Arbeit– teilweise in Abwesenheit – der Bühnenbildner:innen oder Kostümbildner:innen, die im Verhältnis relativ gut bezahlt wird, wird von der mittelmäßig bezahlten Assistent:innenebene abgefangen. Das ist natürlich eine groteske Erfahrung und hat mit Familienvereinbarkeit nicht viel zu tun. Deshalb habe ich vor einigen Jahren Produktionsgespräche zwischen dem jeweiligen künstlerischen Leitungsteam und der Assistent:innenebene eingeführt, bei denen die Erwartungen an Arbeitsweise und Verfügbarkeit abgesteckt werden. Das funktioniert ehrlich gesagt nur teilweise, denn jede Inszenierung ist wie eine Bergtour – in gewisser Weise eine Überforderung. Das kann aber nicht die Begründung dafür sein, dass man zum Beispiel nachts wegen jedes spontanen Einfalls erreichbar sein sollte. Die Kunst kann nicht der Schutzschild für sinnlose und überfordernde Arbeitsweisen sein. Sinnlos meint nicht, dass man künstlerisch etwas ausprobiert und dann wieder verwirft. Wir wollen ja die Kunst schützen. Aber dass die Kunst als Mantel für gedankenlose Überforderung dienen soll, vertrete ich überhaupt nicht. Man muss transparent miteinander sprechen, damit nicht klammheimlich Forderungen und Erwartungen ums Eck kommen.
Es benötigt diese strukturelle Rahmensetzung und es muss in die Köpfe der Verantwortlichen – auch im künstlerischen Bereich – hinein. Das ist ein langer Weg, da zum Beispiel auch junge Regisseur:innen, die selbst gerade Assistent:innen waren, die Tendenz haben, zu vergessen, was in ihrer Assistenzzeit so unangenehm war. Dann machen sie manchmal das nach, was sie selbst in der Arbeit als Assistent:in mit den künstlerischen Leitungsteams erlebt haben, da die Vorbildwirkung fehlt. Aber durch begleitende Gespräche kann man das zumindest teilweise hinkriegen.
Danke für diesen Einblick. Die Betonung lag jetzt sehr stark auf dem Thema Kommunikation und darauf, individuelle Lösungen zu finden. Würden Sie sagen, dass sich in den letzten Jahren oder Jahrzehnten etwas verändert hat? Nehmen wir mal das Beispiel mit der Babysitterrechnung: Haben Sie das Gefühl, dass nachwachsende Schauspielerinnen diese Dinge mehr thematisieren, oder ist das eigentlich schon immer so gewesen? Oder machen Sie schon in Bewerbungsgesprächen den Aufschlag, indem Sie sagen, ›Wenn Sie Kinder haben und da Themen besprechen möchten, kommen Sie gerne zu uns‹?
Ich habe immer versucht, so zu führen, dass sich mit den Mitarbeitenden eine Vertrauenssituation entwickelt hat und alle das Gefühl hatten, mit ihren Problemen zu mir kommen zu können.
Ich als Person habe mich, glaube ich, nicht verändert, aber die äußere Situation. Ich selbst habe zwei Kinder und meine Frau war Lehrerin und hat zwischendrin zehn Jahre nicht gearbeitet, also eine klassische Rollenverteilung. Grundsätzlich bin ich allerdings der Ansicht, dass wir Pflege-und Familienverantwortung versus Erwerbsarbeit gesellschaftlich überhaupt nicht gelöst haben, und ich weiß auch gar nicht, wie es momentan gesellschaftspolitisch zu lösen ist. Im Grunde genommen machen zwei Menschen, wenn es eine klassische Konstellation ist, also zwei Eltern plus Kind, drei herausfordernde Jobs, wenn sie voll arbeiten – das gilt für jedes Berufsfeld.
Jetzt haben wir die Utopie ›familienfreundlich‹: Wir wollen die Jobs, wir wollen die Kinder. Aber das ist ein nicht gelöstes Problem. Es gibt Lösungsbausteine, aber als Ganzes sind es eigentlich drei Aufgaben, die man weder entspannt noch gut hinkriegen kann. Trotzdem, die Zeit hat sich sehr verändert. Wir haben jetzt die gesellschaftliche Erwartung, dass Familienverantwortung und Erwerbsarbeit gemeinsam stattfinden. Früher war das anders.
Insofern hat die Zeit alle Berufsbereiche verändert. Aber das Theater ist halt sehr lange schon wie so eine Abenteuergruppe, die sich irgendwie überfordert und aus intrinsischer Motivation heraus ausbeutet, das heißt Arbeitszeiten, Verfügbarkeiten und Engagement hören nie auf und nähren gleichzeitig die Distinktion eines Selbstbildes als Künstler:in. Diese Überforderung war (und ist teilweise immer noch) etwas, das man entweder wirklich genossen oder sich schöngeredet hat, etwas, das halt irgendwie dazugehörte. Dieses Bild hat sich verändert.
Wenn ich auf die Gegenwart gucke, steht das Thema Work-Life-Balance teilweise ganz oben. Im Moment bin ich ein bisschen ratlos, weil ich denke, die Ensembles sind von innen gefährdet. Ich habe so viele Gespräche darüber, warum gerade etwas aus künstlerischen, persönlichen oder strukturellen Gründen nicht geht. Das können wir in einem großen Haus halbwegs abfedern. Aber gerade wenn man versucht, allen Wünschen und Vorstellungen von Mitarbeitenden zu entsprechen, kann man sowohl als organisatorische Hausleitung als auch als künstlerische Leitung in einen Konflikt kommen. Einerseits alle Wünsche erfüllen wollen und gleichzeitig ein Theater führen, das man immer auch vor Steuerzahler:innen rechtfertigen und verantworten muss, ist mehr als ein schmaler Grat. Viele von mir vertretene Prinzipien lassen sich nicht einfach in den künstlerischen Prozess ›implementieren‹, sondern bedürfen eben konstruktiver Aushandlungs- und Ausbalancierungsprozesse.
Ich beobachte ja auch die Veränderung von Menschen, die sich für Kunst- und Kulturberufe interessieren, weil ich Seminare gebe, die sich genau damit beschäftigen, was Berufsperspektiven im Kunst- und Kultursektor sind. In Hildesheim und an der Hochschule Niederrhein lerne ich natürlich verschiedenste Studierende und ihre Perspektiven kennen, und ich glaube, ein gesamtgesellschaftliches Thema ist diese Vereinzelung von Wertvorstellungen, Weltvorstellung und Weltdenken, die es manchmal sehr schwierig macht, gemeinsam irgendetwas zu tun, sei es als Theater, als Produktion oder auch als Gesellschaft. Eine Frage, die man da weiterverfolgen könnte, ist die, was das Gemeinschaftsstiftende ist, das das Theater im Tiefen eigentlich auch ausmacht. Ich würde gerne noch mal kurz auf das Thema ›seine Brötchen verdienen‹ kommen. Sie sagten ja, viele Schauspieler:innen haben im Moment die Tendenz, dass sie freigewordenen Kapazitäten dafür nutzen, Filmprojekte oder andere Erwerbsarbeit zu machen. Ist das etwas, das Sie im Zuge der Pandemie verstärkt wahrnehmen? Ist es möglicherweise auch dem ökonomischen Druck geschuldet, dass insbesondere Menschen mit Familie das Gefühl haben, gucken zu müssen, wie sie ökonomisch durch die Krisen kommen?
Nun sitze ich in Berlin und das hat diesen Nachteil. Ich glaube, es ist wie eine Verführung. Das Theater hat man sowieso. Manchmal werden tolle Rollenangebote im Theater, wo man fest angestellt ist, für freie Filmangebote abgelehnt, egal ob der Film verspricht, erfolgreich zu werden oder nicht. Dieser Vorgang wiederholt sich immer wieder. Das Individuum mit seinem Willen steht im Mittelpunkt und das künstlerische Entwicklungspotenzial in der angestellten sicheren Position mit einem fein aufeinander abgestimmten Ensemble wird dem kurzfristigen Extra-Einkommen geopfert. Das ist jetzt ein bisschen überspitzt formuliert, weil natürlich jede Anfrage und jeder Vorgang sehr unterschiedlich sind.
Ich lebe völlig aus der Wir-Dynamik und dem Wissen, dass Theater nur gemeinsam zu kreieren ist. Mir ist die Gruppe, egal ob in der Familie, unter Freunden oder eben am Theater mit dem Ensemble, sehr wichtig. Und ich merke, so eine Gruppe zu bilden oder an der Bildung einer Gruppe zu arbeiten, wird zusehends schwieriger. Neben dem Loslösen aus dem Ensemblegeist ist der Fokus auf die eigene Sensibilität in verschiedenen Kontexten gestiegen, beispielsweise gegenüber künstlerischen Arbeitssituationen, dem sozialen Miteinander, dem eigenen Körper, Belastungen et cetera. Das ist eine absolut positive Entwicklung. Doch der Überfokus auf das Ich und das Individuum kann zu Fehlerwartungen und Annahmen führen, die für den Organismus Theater kontraproduktiv sind. Zusehends erlebe ich, dass Menschen schon mit der Erwartung, dass sie ausgebeutet und nicht ernst genommen werden, ans Theater kommen. Als Hausleitung muss ich dann dagegen ankämpfen, bis wahrgenommen wird, dass Bedürfnisorientierung und Fürsorge genuin in meinen Aufgabenbereich fallen und mir wichtig sind. Dennoch gilt es auch hier die Balance zu wahren.
Ich komme noch einmal auf das Thema Film und ihre Frage zurück.
Irgendwann habe ich entschieden, dass es in meiner Intendanz keine Nichtverlängerungen mehr gibt. Das bedeutet, dass ich eine – mehr oder weniger – planbare Sicherheit für alle NV-Bühne-Beschäftigten4 geschaffen habe. Hier greift im Zusammenspiel mit dem oben beschriebenen Ich-Fokus der schöne Satz von Wilhelm Busch: »Schön ist es auch anderswo, und hier bin ich sowieso.«5 Durch das überbordende Angebot an Spielmöglichkeiten in Filmen und Serien kann man weitere Optionen ausprobieren und wahrnehmen, während man in einem sicheren Arbeitsverhältnis ist.
Das Geld spielt dabei schon eine Rolle, und ich habe durchaus eine Sensibilität dafür, zum Beispiel 4000 oder 3500 Euro, die Schauspieler:innen im Festvertrag monatlich verdienen, gegen eine Hauptrolle im fünfstelligen Bereich aufzuwiegen und die damit verbundenen finanziellen Erleichterungen – gerade in Hinblick auf Familienvereinbarkeit – abzuwägen.
Die Theaterlandschaft verändert sich massiv, also an unterschiedlichsten Häusern unterschiedlich, aber ich glaube, viele Themen sind so weit durchgedrungen, dass man sich ihrer annehmen muss, ob das jetzt Care-Work ist, Diversität, ökologische Nachhaltigkeit oder das Zugehen auf die Stadtgesellschaft und das Nachwachsen von Publikum. Diesen Transformationsthemen, so nenne ich sie jetzt mal allgemein, stehen die Theater gegenüber. Gleichzeitig haben sie eine große Konkurrenz, wenn man darauf schaut, mit was sich Menschen in ihrer Freizeit beschäftigen und wofür sie Geld ausgeben. Haben Sie Fragen, Wünsche oder Vorstellungen, in welche Richtung sich das in den nächsten fünf bis zehn Jahren entwickeln könnte?
Ich bin, was das Theater und das Publikum angeht, optimistisch. Das Theater ist unterwegs unter diesem Obertitel ›Diversität‹, und für mich bedeutet Diversität nicht nur People of Color, sondern eben auch alt, jung, Ost, West, reich, arm, Menschen mit Handicaps und ohne, Frau, Mann und natürlich auch die Herkunft und die geschlechtliche Orientierung. Das Thema der Beteiligung auf der Bühne ist sehr wichtig. Man kann zwar nicht alle Diversitäten gleich ausgeprägt bearbeiten, aber man muss Schwerpunkte für sich auswählen und sich fragen, wo man eine Kontinuität hinkriegen möchte.
Eine der Kontinuitäten, die wir am DT haben, ist mit dem RambaZamba Theater, das schon seit fünf Jahren immer wieder mit uns arbeitet. Es hat eine Kontinuität, wenn ich auf der Bühne erlebe, was unsere Gesellschaft ausmacht – Menschen mit Behinderung und Menschen ohne Behinderung. Dass ich auf der Bühne spüre, dass dies geduldig etabliert wurde, ist mir wichtig.
Eine weitere Kontinuität ist ein ganz starkes DT Jung*. Das ist eine Riesengruppe, die sowohl in der Kammer als auch auf der großen Bühne und nicht ›nur‹ in der Box spielt. Sie sind Teil von uns, vom DT. Sie sind nicht nur ein kleiner Glutkern, sondern ein richtiges Glutnest – ein Leidenschaftskern für das Theater. Die junge Sparte darf man nicht nur als ein theaterpädagogisches Anhängsel sehen oder vom Atem des Theaters abtrennen. Bei uns sind die Leiterinnen des DT Jung* in der Dramaturgie, also im Kern des Hauses angesiedelt. Die jungen Menschen sind wie Empfindungsmelder, die zeigen, um was es eigentlich geht, was wichtig ist – unsere Verbindung zur jungen Generation. Also immer, wenn wir die Diversität, die wir meinen, wirklich zur großen Sache machen und nicht strategisch wie so ein Beiboot betrachten, erreichen wir das Publikum. Auch die Themen der queeren Community mit ihren Perspektiven sind meinem Team und mir wichtig – man muss sie stark und hörbar machen. Sie müssen auf die Bühne, in diese bürgerlichen Häuser. Auch das darf man aber nicht nur einmal machen, sondern es muss verbindlich, kongruent, ehrlich und konsistent gemeinsam erarbeitet werden. Das Letzte ist die Ost-West-Geschichte. Da haben wir – natürlich verstärkt durch den Krieg in der Ukraine – seit Jahren diese zwei Welten: Belarus, Ukraine, Russland und so weiter.
Ich glaube, die Theater müssen sich glaubhaft und ernsthaft mit dieser diversen Gesellschaft auseinandersetzen, ohne sich durch ein politisches Ich-muss-alles-machen zu überfordern. Das, was sie machen, müssen sie mit viel Power durchziehen und die Leute, die sie reinholen, ernst nehmen und nicht bloß als Vehikel sehen. Wir müssen das glaubhaft leben und dann sind die Theater wirklich das, was sie eigentlich immer sein wollten und sollten: ein sprühender, lebendiger Punkt in der Stadt, wo die zeitgenössische Zerrissenheit wirklich gelebt und abgebildet wird, und zwar nebeneinander.
Das Theater als lernendes System ohne Weisheitsanspruch spiegelt den Umgang mit gesellschaftlicher Realität wider und die gleiche Lernbefähigung wie sie auch Gesellschaft hat. Gute Besucher:innenzahlen sind das eine. Aber wir brauchen Emotionen, und zwar auch nach der Aufführung, und nicht das Gefühl, eine bildungsbürgerliche Aufgabe abgesessen oder mal wieder einen klassischen Text gehört zu haben. Theater ist trotz allen Denkens ein Gefühlsort, und wenn die Menschen keine Sehnsucht danach haben, dann wird es nicht überleben. Ich bin zuversichtlich, es sei denn, wir zerschlagen uns selbst, wenn wir diese Gemeinschaften und Ensembles nicht mehr hinkriegen, wenn das zu anstrengend wird. Da könnten wir uns viel selbst kaputtmachen.
Man muss gute Systeme und Rahmensetzungen haben. Die, die wir haben, müssen wir handhabbar machen, nicht unter ihnen leiden, sondern sie benutzen. Nicht klagen, das System sei so starr, sondern versuchen, das System biegsam zu kriegen – das ist der Job, auch im Hinblick auf Familienvereinbarkeit. Und das kriegen wir auch hin, weil hinter dieser Ego-Welt natürlich auch die Sehnsucht nach Gruppe und Zusammenhalt besteht. Es herrscht eine hohe Energie. Lasst uns die nutzen!? Das beschreibt die aktuellen Themen – auch Familienvereinbarkeit – gar nicht so pessimistisch, sondern realistisch.
1 Ulrich Khuon war von 2009–23 Intendant am Deutschen Theater Berlin und ist ab der Spielzeit 2024/25 Interimsintendant am Schauspielhaus Zürich.
2 Deutsches Theater Berlin.
3 Zu durch die GDBA im Tarifvertrag neu verhandelten Einstiegs- und Mindestgagen abhängig Beschäftigter an Theatern siehe https://www.gdba.de/gage/ .
4 Tarifvertrag Normalvertrag Bühne.
5 Wilhelm Busch, Plisch und Plum 1882.
ULRICH KHUON ist Dramaturg und Theaterintendant.
Er studierte Rechtswissenschaft, Theologie und Germanistik. 1980 wurde er Chefdramaturg am Theater Konstanz, ehe er von 1988 bis 1993 die Intendanz des Hauses übernahm. Im Anschluss war er von 1993 bis 2000 Intendant am Schauspielhaus Hannover und übernahm zur Spielzeit 2000/2001 die Leitung des Hamburger Thalia Theaters. 1997 wurde er zum Professor an der Hochschule für Musik und Theater Hannover ernannt. Von 2009-2023 war er Intendant des Deutschen Theaters Berlin. Ab Sommer 2024 leitet Ulrich Khuon für ein Jahr als Interims-Intendant das Schauspielhaus Zürich. Von 2017 bis 2021 war er Präsident des Deutschen Bühnenvereins. Im Frühjahr 2020 wurde Ulrich Khuon für sein Eintreten für eine demokratische Debattenkultur, für Geschlechtergerechtigkeit und die Verbesserung der Arbeitsbedingungen von Künstler:innen mit dem Bundesverdienstkreuz 1. Klasse ausgezeichnet.
Ulrich Khuon ist Mitglied der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste und der Akademie der Künste Berlin.